"... eine Hypothek, an der noch lange zu tragen sein wird." Ralph Giordano und die 'zweite Schuld': Zur Aktualität einer publizistischen Intervention
Veranstalter: KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Kooperation mit der Forschungsstelle für
Zeitgeschichte
Leitung: Dr. Oliver von Wrochem, Cornelia Siebeck, Dr. Susann Lewerenz
Veranstaltungsort: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Jean-Dolidier-Weg 75, 21039 Hamburg, Studienzentrum
Datum: 15.–16. Februar 2018
In seiner 1987 veröffentlichten Streitschrift ›Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein‹ konstatierte Ralph Giordano zahlreiche Versäumnisse im Umgang mit dem Nationalsozialismus und problematisierte deren Auswirkungen. Die bundesrepublikanische Demokratie, so seine zentrale These, gründe auf einem ›großen Frieden mit den Tätern‹. Nach wie vor sei ihre politische Kultur von ideologischen Kontinuitäten und Entlastungsbedürfnissen geprägt. Die Mitwirkung älterer Generationen am NS-Regime werde tabuisiert, die Bedrohung der Demokratie vonseiten des rechten politischen Spektrums systematisch ignoriert. Giordano kritisierte auch den ›verordneten Antifaschismus‹ in der DDR: Der antifaschistische Widerstand werde zur Stabilisierung des SED-Regimes instrumentalisiert, die Gesellschaft davor bewahrt, sich mit ihrer historischen Mitverantwortung zu befassen.
Unter dem NS-Regime als Jude verfolgt und fortwährend mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert, verwies Giordano immer wieder auf die Fragilität demokratischer Verhältnisse. Zeitlebens appellierte er an die Mehrheitsgesellschaft, sich schonungslos mit Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, um sich von ihnen emanzipieren zu können. ›Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein‹ fand in der damaligen Bundesrepublik große Resonanz. Monatelang rangierte das Buch auf der Bestsellerliste; der Autor erhielt massenhaft Zuschriften, deren Verfasser*innen Erfahrungen im familiären und gesellschaftlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit schilderten. Der Begriff der ›zweiten Schuld‹ etablierte sich nachhaltig im öffentlichen Diskurs.
Giordanos Streitschrift ist ein Zeitzeugnis der 1980er-Jahre: Symptom einer zunehmenden Skandalisierung der ›unbewältigten Vergangenheit‹, parteiliche Intervention in die gesellschafts- und geschichtspolitischen Debatten der alten Bundesrepublik. Im Zuge des deutschen nation building nach 1990 ist das Postulat einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit vom gegenkulturellen Projekt zur Staatsräson geworden, die sich in einer vielfältigen Gedenklandschaft manifestiert. Nahezu alle Themen, die Giordano dereinst als tabubehaftet beschrieb, sind mittlerweile öffentlich verhandelt worden. Die Entwicklung des gesellschaftlichen Umgangs mit der NS-Vergangenheit wird heute vielfach als Ausweis einer demokratischen Läuterungs- und Erfolgsgeschichte ins Feld geführt.
Angesichts aktueller politischer Entwicklungen – vom NSU-Terror über die Dauerkonjunktur rechter Gewalt bis hin zur Enttabuisierung offen rassistischer und sozialdarwinistischer Diskurse – scheint es jedoch geboten, derartige Erfolgsgeschichten einmal wieder auf den Prüfstand zu stellen. Den 30. Jahrestag des Erscheinens von ›Die zweite Schuld‹ wollen wir daher zum Anlass nehmen, nach spezifisch postnationalsozialistischen Prägungen der bundesrepublikanischen Gegenwart zu fragen. Dies- und jenseits des offiziellen ›Erinnerungskonsenses‹ zur NS-Vergangenheit soll dabei insbesondere der gesellschaftliche Umgang mit Rechtsextremismus nach 1945 in den Blick genommen werden.
Zu diesem Zweck möchten wir Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen und einschlägige gesellschaftspolitische Akteur*innen zu einem zweitägigen Workshop einladen. In Anlehnung an Giordanos Thesen sollen dabei folgende Fragestellungen zusammengedacht und diskutiert werden:
- Fortwirken postnationalsozialistischer Affektstrukturen und Schuldabwehrstrategien
- (Dis-)Kontinuitäten im gesellschaftlichen Umgang mit NS-Täter*innenschaft
- Der bundesrepublikanische Antikommunismus und seine gesellschaftspolitischen Folgen
- Der ›verordnete Antifaschismus‹ in der DDR und seine gesellschaftspolitischen Folgen
- Die (Nicht-)Wahrnehmung extrem rechter Kontinuitäten in der deutschen Mehrheitsgesellschaft
- Herausforderungen für eine kritische Gedächtnisarbeit (Abschlussdiskussion)
Der Workshop ist bewusst nicht als klassische akademische Tagung konzipiert. Im Mittelpunkt steht die historisch informierte gemeinsame Reflexion und Diskussion. In jedem Panel tragen drei Referent*innen basierend auf ihrer Expertise ein zehnminütiges Thesenpapier vor. Den jeweiligen Chairs kommt die Aufgabe zu, die vorgestellten Thesen zu kommentieren und zum offenen Gespräch überzuleiten. In einer resümierenden Diskussion soll nach aktuellen Herausforderungen für eine kritische Gedächtnisarbeit in der postnationalsozialistischen Migrationsgesellschaft gefragt werden.
Der Workshop findet am 15. und 16. Februar 2018 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme statt. Während des Workshops wird die Bibliothek von Ralph Giordano in den Räumlichkeiten der KZ-Gedenkstätte feierlich eingeweiht.
Programm
Donnerstag, den 15. Februar 2018
11.45–12:45 Uhr Ankommen und Mittagsimbiss
Workshop
12:45–13:45 Uhr Begrüßung und Einführung
Einführung: Cornelia Siebeck
13.45–15.15 Uhr Panel 1
»Das Bedürfnis, sich der drängenden Bürde zu entziehen« –
Wirken postnationalsozialistische Affektstrukturen und Schuldabwehrstrategien bis heute fort?
Chair: Prof. Dr. Oliver Decker; Impulse: Dr. Sebastian Winter, Dr. Yvonne Robel, Dr. Antonia Schmid
15.15–15.45 Uhr Pause
15.45 –17:15 Panel 2
»... eine unverhohlene, energische und phantasievoll betriebene Entlastungspraxis« –
(Dis-)Kontinuitäten im gesellschaftlichen Umgang mit NS-Täter*innenschaft
Chair: Dr. Ulrike Jureit; Impulse: Dr. Sebastian Brünger, Dr. Isabell Trommer, Dr. Oliver von Wrochem
17.15–17.30 Uhr Pause
17.30-19.00 Uhr Panel 3
»Wird für sie, ganz egal, was von rechts kommt, der Hauptfeind nicht immer links stehen?« –
Der bundesrepublikanische Antikommunismus und seine gesellschaftspolitischen Folgen
Chair: Prof. Dr. Constantin Goschler; Impulse: Max Fuhrmann, Dr. Enrico Heitzer, Dr. Dominik Rigoll
20.00 Abendessen im Commundo Tagungshotel
Freitag, den 16. Februar 2017
Workshop
9.15–10.45 Uhr Panel 4
»Der mündige Bürger war schließlich das letzte, was erwünscht war.« –
Der ›verordnete Antifaschismus‹ in der DDR und seine gesellschaftspolitischen Folgen
Chair: Prof. Dr. Dorothee Wierling; Impulse: Dr. Patrice Poutrus, Jan Riebe, Dr. Harry Waibel
10.45–11.00 Uhr Gang zum Offenen Archiv
11.00 –12:00 Uhr Einweihung der Bibliothek von Ralph Giordano in der KZ-Gedenkstätte
Neuengamme
Begrüßung: Dr. Detlef Garbe
Rede Kultursenator der Freien und Hansestadt Hamburg, Dr. Carsten Brosda
Rede Marina Elli Jakob
Rundgang durch die Bibliothek
12.00–13:00 Uhr Imbiss im Studienzentrum
13.00–14.30 Uhr Panel 5
»Für uns war das Gefühl politischer und seelischer Ungeschütztheit ohnehin allgegenwärtig.« –
Die (Nicht-)Wahrnehmung extrem rechter Kontinuitäten in der deutschen Mehrheitsgesellschaft
Chair: PD Dr. Gideon Botsch; Impulse: Dr. Massimo Perinelli, Michael Sturm, Dr. Lea Wohl von Haselberg
14.30–14.45 Uhr Pause
14.45 bis 16.00 Abschlussdiskussion
Herausforderungen für eine kritische Gedächtnisarbeit
Moderation: Dr. Susann Lewerenz; Podium: Dogan Akhanli, Anne Goldenbogen, Prof. Dr. Christoph Kopke, Prof. Dr. Axel Schildt
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