Reaktionen auf den Sammelband: Ein Kampf um Deutungshoheit – Die Auseinandersetzungen um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam, Hrsg. von Wol

Rezension von Anne Lepper auf Lernen-aus-der-Geschichte.de


[...] EIN NEUER HISTORIKERSTREIT?

Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Leistikowstraße nimmt Andrew H. Beattie zum Anlass, um die verschiedenen Standpunkte, die sich innerhalb der deutschen Geschichts- und Erinnerungspolitik während und in Anschluss an den Historikerstreit von 1986 herausgebildet haben, zu beleuchten. Entgegen der Auffassung verschiedener Historiker/innen registriert Beattie überdauernde Totalitarismus-Theorien und Gleichsetzungstendenzen in der deutschen Aufarbeitungspolitik. Angesichts dieser beobachteten Entwicklungen, weist er auf die unterschiedliche Wahrnehmung verschiedener renommierter Historiker/innen bezüglich der differenzierten Betrachtungsweise und der erinnerungspolitischen Einordnung beider Vergangenheiten in der Gesellschaft hin. Jedoch trotz dieser divergierenden Auffassungen sei es zu keinem „neuen Historikerstreit“ gekommen, konstatiert Beattie und beklagt in dem Zusammenhang fehlende Forschungsarbeiten zu Fragen der Kontinuität und des Wandels vom Historikerstreit bis in die Gegenwart. In seinem Text zeichnet er den Weg vom Historikerstreit 1986 über die Jahre nach der Wiedervereinigung bis zum Streit um die Gedenkstätte Leistikowstraße nach. Der Fokus liegt hierbei in erster Linie auf der Frage nach der Vergleichbarkeit von Kommunismus und Nationalsozialismus und der Verhinderung der Gleichsetzung beider Systeme. Dabei wird der Konflikt herausgestellt, der sich aus der Kritik konservativer Kräfte an der Ablehnung einer „äquivalenten“ Behandlung – vornehmlich durch die Linke – ergibt.

 

DIE GLEICHSETZUNG TOTALITÄRER SYSTEME

Juliane Wetzel erläutert in ihrem Beitrag die Problematik des 23. August als europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus. Der umstrittene Gedenktag, der durch seine Durchführung Nivellierungstendenzen innerhalb der Gesellschaft sichtbar macht, wird mittlerweile in verschiedenen europäischen Ländern, darunter Schweden, Estland, Lettland, Litauen, Kanada, Bulgarien, Kroatien, Polen, Ungarn und Slowenien begangen. Wetzel macht in ihrem Text auf die Gefahr der Trivialisierung des Holocaust durch Gleichsetzung mit dem Stalinismus aufmerksam.

Als Beispiele einer Geschichtsauffassung, die statt auf Differenzierung zwischen den totalitären Systemen auf eine Instrumentalisierung und Mystifizierung des kulturellen Gedächtnisses abzielt, werden in dem Band zwei Orte vorgestellt, deren Konzepte in erster Linie patriotische Interessen bedienen: Brigitte Mihok stellt die Gedenkstätte „Haus des Terrors“ in Budapest vor, die eine Gleichsetzung des faschistischen und des kommunistischen Regimes legitimiert, und Ewa Czerwiakowski befasst sich mit dem Museum des Warschauer Aufstands, in dem die historischen Fakten über den Kampf der Warschauer Zivilbevölkerung gegen die Deutschen im Jahre 1944 teilweise durch einen unsachlichen Heldenkult überlagert wird.

 

UNTERSCHIEDLICHE PERSPEKTIVEN VON WISSENSCHAFTLER/INNEN UND ZEITZEUG/INNEN

Der Streit, der aufgrund konkurrierender Interessen wissenschaftlicher Vertreter/innen und Zeitzeug/innen an vielen Gedenkstätten und Orten mit „doppelter Vergangenheit“ ausgetragen wird, wird in einem Beitrag von Carola S. Rudnick in Bezug auf die sächsischen Gedenkstätten und in einem Streitgespräch zwischen Winfried Meyer und Roland Brauckmann in Bezug auf die Gedenkstätte Leistikowstraße, thematisiert.

In zwei weiteren Beiträgen kommen ehemalige Häftlinge des sowjetischen Untersuchungsgefängnisses zu Wort. Friedrich Klausch und Waldemar Hoeffding berichten über ihre Erfahrungen während der Haftzeit und setzen sich aus der Perspektive der „Zeitzeugen“ mit der Entwicklung der Gedenkstätte auseinander.

Drei Beiträge geben Einblick in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der sowjetischen Besatzungsjustiz und ihren Folgen. Andreas Hilger gibt in „Der Gulag in Deutschland“ einen Überblick über sowjetische Haftstätten in Deutschland nach 1945. Martin Jander stellt die „Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft“ vor und zeichnet deren Motive und Aktivitäten nach und Enrico Heitzer setzt sich mit der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ auseinander. Beide Autoren bewegen sich in ihren Texten im Spannungsfeld zwischen der Durchsetzung berechtigter Opferinteressen und den politischen Kampagnen militanter antikommunistischer Aktivist/innen.

Carola Rudnick thematisiert in einem zweiten Beitrag die Musealisierung der DDR und Barbara Distel setzt sich mit der Frage auseinander, ob mit dem fortschreitenden Verlust von KZ-Überlebenden als Zeitzeugen die mediale Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus mehr und mehr durch die emotionalen Bedürfnisse und Forderungen der Konsumenten bestimmt wird, anstatt historische Tatsachen im Blick zu haben. [...]

Rezension von Uwe Neumärker im Gedenkstättenrundbrief Nr. 171 (09/2013) S. 54-56

 

[...] der »Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung« am Beispiel der »Auseinandersetzungen um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam« geht um die politische Instrumentalisierung des Gedenkens und den Versuch, die fundamentalen Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus einzuebnen, wie der Herausgeber, Wolfgang Benz, in seiner klugen, wegweisenden Einleitung trefflich analysiert. Die Besonderheit der deutschen Situation, mit dem Erbe beider Regimes umgehen zu müssen, liegt auf der Hand. Die Leistikowstraße 1 steht dabei für den Terror in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Der Streit um die Gedenkstätte kann als radikalisierter Ausdruck der oft unterschiedlichen Interessen von Opfern und Politikern auf der einen sowie der historisch-wissenschaftlichen Aufarbeitung auf der anderen Seite gelten. [...] Enrico Heitzer wiederum gelingt in seinem Artikel zur »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit in West-Berlin und in der Bundesrepublik« die sachliche Darstellung einer vergleichbaren Opferorganisation in den 1950er Jahren. [...]

Juliane Wetzel widmet sich fast ganz am Schluss des Sammelbandes dem 23. August als europäischem Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus unter der Fragestellung »Trivialisierung des Holocaust?« Wetzel beklagt Nivellierungstendenzen »im öffentlichen Diskurs vieler Länder« und befürchtet, dass das Holocaust-Gedenken in den Hintergrund gedrängt, zumindest mit dem Gedenken an die Millionen Opfer des realen Sozialismus gleichgesetzt werde. Man hakt das Thema »Verbrechen im 20. Jahrhundert« praktisch an einem Gedenktag ab. Das wäre fatal, ist allerdings eine deutsche, eine westliche Sicht auf die Dinge: In den »neuen« europäischen Staaten, die diese Idee durchgesetzt haben, herrschen andere Denkweisen und Deutungsmuster vor, die mit der westlichen Erinnerungskultur oft nicht kompatibel sind; eine gemeinsame Geschichtsauffassung gibt es auch hier nicht. Zumindest die drei baltischen Länder eint jedoch, dass die Ermordung der Juden (auch der Sinti) in der öffentlichen nichtjüdischen Erinnerung praktisch nicht vorkommt, nicht Teil einer Staatsraison wie in Deutschland ist. Das eigene Leiden unter dem sowjetischen Terror 1940/41 und von 1944 bis 1990/91 dagegen währte viel länger, es ist in jeder Familienerzählung dominant. Ein allgemeiner Gedenktag lässt zudem die eigene Mittäterschaft am Massenmord geflissentlich übergehen.

Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen ist zunächst einmal eine nationale Aufgabe. Staaten und Politiker täten gut daran, daraus keinen europäischen »Einheitsbrei« zu machen – Aufrechnen und Gleichsetzen gewissermaßen zu sanktionieren. Die Debatten um den richtigen Umgang und die Bewertung des 20. Jahrhunderts werden und müssen allerdings weitergehen. Der Sammelband von Wolfgang Benz bietet Einblicke in die großen Auseinandersetzungen über die Darstellung des Kampfes um Deutungshoheit in der Potsdamer Leistikowstraße mithin wie darüber hinaus in grundsätzliche Fragen des Gedenkens und Aufklärens.

Neues Deutschland, 24.05.2013

Deutsche Wut und Rechthaberei

In der Zentrale für politische Bildung wurde über die Gedenkstätte Leistikowstraße gestritten

Ist es vertretbar, in der Gedenkstätte Leistikowstraße in Potsdam Vergehen der sowjetischen Besatzungsmacht an Deutschen zu dokumentieren, ohne einen einzigen Hinweis auf die zuvor von Nazideutschland in der Sowjetunion verübten Verbrechen? Wer am Mittwochabend auf diese wichtige Frage in der Potsdamer Landeszentrale für politische Bildung eine Antwort erwartete, der wurde einmal mehr enttäuscht.

Dabei klang der Titel des dort besprochenen Buches verheißungsvoll: »Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung. Die Auseinandersetzung um die Gedenkstätte Leistikowstraße«, herausgegeben von Wolfgang Benz.

Die Debatte konnte und musste wegen Überfüllung in einen Vorraum übertragen werden. Eingangs bat Hausherrin Martina Weyrauch, gewitzt durch die dramatische Vorgeschichte, »die Messer in der Tasche zu lassen«. Denn der Aufbau der Gedenkstätte Leistikowstraße, in dem der sowjetische Militärgeheimdienst Smersch bis Mitte der 1950er Jahre ein Untersuchungsgefängnis betrieb, war von einem erbitterten Streit begleitet. Weyrauchs Hoffnung war vergeblich. Die Auseinandersetzung wurde am Mittwochabend unsachlich fortgesetzt.

Professor Benz stellte die Frage, ob Historiker und Zeitzeugen nicht »natürliche Feinde« seien. Denn während Zeitzeugen, im aktuellen Fall die Opfer der sowjetischen Militärjustiz, allein ihr Leiden und die in ihren Augen ungerechte Behandlung sehen, ist der Historiker verpflichtet, einzuordnen, zu differenzieren, Bedingungen zu untersuchen, Zusammenhänge darzustellen. [...]

Potsdamer Neueste Nachrichten, 24.05.2013

 

Weiterhin heftige Kontroverse um die Leistikowstraße Stalinismus-Opfer nutzen Buch-Diskussion mit dem Historiker Wolfgang Benz zur Gedenkstätten-Kritik

von Guido Berg

 

Innenstadt - Zu einer emotionalen Kontroverse vor überfülltem Auditorium kam es am Mittwochabend in der Potsdamer Landeszentrale für politische Bildung. Vorgestellt wurde das vom Historiker Wolfgang Benz herausgegebene Buch mit dem langen Titel „Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung. Die Auseinandersetzung um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstrasse Potsdam“.

 

Verbände von Opfern stalinistischer Verfolgung hatten schon im Vorfeld ihren Unmut über das Buch geäußert; Mitglieder des Vereins Gedenk- und Begegnungsstätte Ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam e. V. verteilten vor Beginn eine kritische Stellungnahme. Es würden „fehlerhafte, diskriminierende oder polemische Aussagen über uns gemacht“. Eine Tätlichkeit des Zeitzeugen Lothar Scholz gegen die Gedenkstättenleiterin Ines Reich im März 2012, die am 30. Mai vor dem Potsdamer Amtsgericht verhandelt wird, mag Martina Weyrauch, Leiterin der Landeszentrale, zu der ironischen Auftaktbemerkung veranlasst haben: „Die Messer habe ich heute nicht eingesammelt. Ich hoffe, die Waffen bleiben in den Taschen.“ [...]

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